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T r a v e l s  -  R e i s e n




"L e n i n g r a d"

Ankunft des Nachtzuges aus dem Westen im Jahr 1986 auf dem Berliner Vorortbahnhof Griebnitzsee: Kontrollhalt, Gebell aus einem Wachhundezwinger, Fahnen zum 1. Mai, Pruefung der Ausweise, Untersuchung der Wagen von oben und unten, neben den Gleisen die Mauer, gesichert durch Stacheldraht. Dann, waehrend der Weiterfahrt hinter der seit Helmstedt vorgespannten Dieselbaureihe 132, im Bahnhof Wannsee ein Militaerzug der Amerikaner, Stars and Stripes auf den Wagen. Aussteigen an der Friedrichstraße, Anstehen in den Katakomben der Personenkontrolle... Am Abend, in der Gleisunterfuehrung des Ostbahnhofes: an den Aufgaengen sind die Zuege angeschrieben, Leningrad-Express Abfahrt 22 Uhr 06, alte Leute suchen ihren Bahnsteig, eine Gruppe Schwarzer karrt ganze Wagenladungen, am Perron steht hinter einer 132 ein Zehnwagenzug, ausschließlich russische Schlafwagen mit Vierbettabteilen, dazwischen ein einzelner RIC-Typ, Sowjetoffiziere davor, der Militaerzug Wuensdorf - Moskau. Dann Einfahrt des Leningrad-Express, am Schluss fuenf sowjetische Wagen mit Vierbettkupees und dazu "unser" RIC-Schlafwagen mit der ersten Klasse. Eine rundliche russische Schaffnerin fuehrt in ein Zweibettabteil mit Scheibengardinen, kontrolliert und akzeptiert die in Budapest zum subventionierten Ostblocktarif ausgestellten Billets. Aufatmen - nun kann wohl nichts mehr schief gehen. Abendgebet im weiß ueberzogenen Bett eines sowjetischen Schlafwagens zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder... Eine 132, sieben Sowjetschlafwagen und ein belgischer Waggon huschen vorbei - der erste Teil des Ost-West-Express aus Moskau nach Berlin, Oslo oder Stockholm und Oostende. Die Passkontrolle in Frankfurt ist genau, ein polnischer Devisenbeamter l"át sich das Geld vorzaehlen. Ob der Zug auf dem anderen Gleis wohl der zweite Teil des Ost-West-Express von Moskau nach Paris sein mag?

Am anderen Morgen scheint Sonne ueber Wiesen, Felder, Doerfer, ueber breite Straßen, niedrige Haeuser und bluehende Obstbaeume - die polnische Ebene. Der Zug Warschau - Paris kommt mit einer gruenen EU 07 - Ellok entgegen. Die Halte sind zahlreich und bei einem ist links ein abgestellter Zug aus russischen Wagen und in der Ferne die Spitze eines Wolkenkratzers im Zuckerbaeckerstil zu erkennen: der 235 Meter hohe Kulturpalast, ein "Geschenk" Stalins an des polnische Volk, errichtet in Warschau ungefaehr da, wo einst der Wiener Bahnhof war. Tunnelstation Centralna: beißender Rauch aus den Schlafwagenschornsteinen im Halbdunkel. Oben, im nahegelegenen Bahnhof Glowna, muss die ausgestellte Stromlinienlok der deutschen Baureihe 0310 stehen. Bei der Fahrt ueber die Weichsel grueßt die Silhouette der Altstadt - dann kommt der Zug im Bahnhof Warszawa Wschodnia zum Halten.

Daneben laeuft hinter einer orangefarbenen Ellok EP 05 der Chopin-Express aus Wien ein, mit einem sowjetischen und einem CIWLT-Schlafwagen, dem letzten der ehrwuerdigen Compagnie im Ostblock. Photographieren ist damals strengstens verboten, beim Heben der Kamera gibt es ein ungutes Gefuehl und - von draußen einen scharfen Ruf wie "Milicja". Nur nicht hinschauen, die Scheibengardinen schließen, Kamera verstauen; Gott, lass die naechsten Minuten gut voruebergehen...

Nichts geschieht. Unser Zug setzt sich in Bewegung. Der Tee, den die russische Schaffnerin, unsere "Mama", bringt, tut gut zur Beruhigung. "Kopeken? Njet?" Sie nimmt auch Mark. So streng sind die Sitten hier doch nicht. Aber vor einem Herrn im Seitengang wird man sich in Acht nehmen, denn er traegt auf dem guten Anzug ein rotes Abzeichen. Doch was ist das? Er plaudert mit unserer mitreisenden Freundin... und viel spaeter sollte er erklaeren, dass das Abzeichen ein hoher polnischer Orden sei, den er anlege in der Hoffnung, damit leichter durch den Zoll zu kommen. Der Fremde ist ihr Abteilnachbar und sie erzaehlt, wie sie, in Berlin noch allein in ihrem Schlafcoupe, sich beim Aufwachen am Morgen wunderte, als unter ihrem Bett - - Herrenschuhe standen.

Draußen gibt es Doerfer und Kirchen zu sehen, Pferdefuhrwerke an Bahnschranken, Wiesen, Teiche, Kiefern, Birken und zwei schnurgerade Gleise jener Strecke Warschau - Bialystok, die schon zu Kindertagen auf dem Atlas als laengste Gerade aufgefallen war. Kurz hinter Warschau, in der letzten Kurve vor der Abzweigung, ist ein Blick auf "unsere" zwei EU 07 zu erhaschen gewesen und der leuchtendblaue Express "Polonez" aus Moskau war entgegengekommen.

Öde Neubauquartiere, deutsche Formsignale: Einfahrt in Bialystok. Hinter einer Diesellok, wahrscheinlich SU 46, geht es anschließend auf eingleisiger Linie in ein liebliches Huegelland hinein. Irgendwo eine Barockkirche, dann ein zweites Gleis, endlose Rangierbahnhoefe, verrostet, Gleisdreiecke, leer, ein Schild mit durchgestrichener Kamera, strategische Reserven in der Einsamkeit... Ein Gueterzug mit russischen Waggons und einer polnischen SM 48 ueberholt uns langsam. Sollte man dem Lokfuehrer zuwinken? Sein eisiger Blick auf den sowjetischen Schlafwagen belehrt eines Besseren.

Kuznica Bialystoka. Grenze. Die russischen Wagen werden von einer SM 48 in ein Umspurgleis gefahren und mit Elektrowinden angehoben. Waehrend die Pass- und Devisenkontrollen beginnen, rollen die Normalspurdrehgestelle unter dem Zug heraus und die Breitspurdrehgestelle herein. Dann rangiert eine breitspurige SM 48 der PKP die Wagen an einen Bahnsteig jenseits eines Drahtzaunes. Die mitreisenden Schwarzen muessen ihre Schachteln fuer den Zoll ausladen. Auf dem letzten Gleis kommt der Gegenzug aus Leningrad hinter einer gruenen M62 der sowjetischen Eisenbahnen SZD an. Ein Polizeikordon zwischen den Drahtzaeunen erwartet ihn.

Abfahrt mit der M62. "Bitte verlassen Sie das Abteil", befiehlt ein russischer Offizier in korrektem Deutsch. Alle Ecken und Hohlraeume werden ausgeleuchtet. Neben dem Gleis verlaeuft der Stacheldraht und der umgepfluegte Todesstreifen. Der Zug haelt im Wald zur Zollkontrolle. Dann Weiterfahrt nach Grodno.

Von hier ab hat der Express 15 Wagen, alles Schlafwagen, meist Vierbettabteile. Vorne brummt eine dunkelrote TEP60. In der Mitte des Zuges laeuft ein Speisewagen. Schraeg fallen ueber das Nachbargleis und die Wipfel der endlosen Nadelwaelder die Strahlen der Spaetnachmittagssonne auf die weißen Gardinen, den Flieder auf den Tischen und die beiden begleitenden Schoenen. Es gibt Borschtsuppe und Gulasch. Als wir nach Wein fragen, sucht der Ober in einem Woerterbuch, aber selbst das hilft nichts. Gorbatschow hat die Speisewagen erfolgreich trockengelegt. Die Rechnung macht der Kellner auf einem hoelzernen Rechenrahmen mit Kuegelchen. Trinkgeld lehnt er ab, aber gegen ein kleines Praesent hat er nichts einzuwenden. Er wirft dafuer den Schoenen zum Abschied ein Kusshaendchen zu...

Leningrad-Express St. Petersburg - Berlin, Riga - Berlin, Vilnius April 1992 (WS)


Neun Uhr abends, und noch immer scheint die Sonne. In Lentvaris muendet die zweigleisige Nord-Express-Strecke aus Koenigsberg ein. Eine Diesellok TEP60 kommt mit einem langen Reisezug entgegen. Ankunft in Vilnius. Wollte unser polnischer Nachbar nicht hier aussteigen? Man wird ihn wecken muessen. Mit hastig zusammengesuchten Koffern und wehendem Mantel eilt er aus dem Abteil, nicht ohne sich von den Damen mit einem formvollendeten Handkuss verabschiedet zu haben.

An einem Bahnsteig wartet eine alte Dieseldoppellok TE3, ein Postzug wird bereitgestellt, ein gruener Schnellzug mit 19 Wagen hinter zwei TEP60 faehrt aus, wohl nach Moskau. Ihm folgt unser Leningrad-Express. Unter einer blauen Auspuffwolke windet er sich zwischen Laubwaldhuegeln abwaerts, in die Daemmerung hinein.

Es ist eine kalte Nacht. An dem grauen Morgen saeumt nordischer Wald die Strecke, unterbrochen nur von einzelnen buntbemalten Holzhaeuschen. Der Zug hat die Fahrtrichtung gewechselt; Lokwechsel koennte in Daugavpils, einst als Duenaburg bekannt, gewesen sein. Dessen Gleiswirrwarr war getrost verschlafen worden... Der Express durchquert nun eine weite Ebene, Industrieschlote im Hintergrund. Neben hell- mit dunkelblauen Wagen eines Zuges aus Tallinn kommt er um 9 Uhr 10 zum Stillstand. Ein Intourist-Agent begrueßt uns mit Namen, er geleitet zu einer schwarzen Wolga-Limousine. Tatsaechlich: das kleine alte Gebaeude in der Vorstadt ist der Warschauer Bahnhof von Leningrad.

Das Hotel aber, das Evropeiskaja, atmet St.Petersburger Eleganz von anno dazumal. Es liegt nahe dem Newski-Prospekt, nahe den goldenen Kuppeln der Erloeserkirche, nahe auch dem Winterpalast, diesseits der Newa, an deren jenseitigem Ufer die Kirchturmspitze der Peter-Pauls-Festung wie eine Nadel in den nordischgrauen Himmel sticht.

Die schweren Schilder aus Messingguss an den Zimmerschluesseln verraten mit ihrer Aufschrift "Hotel d'Europe", dass wir im Domizil der Luxusreisenden aus dem einstigen Nord-Express gelandet sind. Die Gesellschaftsraeume wetteifern beinahe mit der kuehlen Pracht von Kaiserin Katharinas Schloss in Puschkin, dem frueheren Tsarskoe Selo, und der Speisesaal ist eher eine Kathedrale, mehrere Stockwerke hoch. Aus Jugendstilfenstern in Blau und Gruen bestehen Apsis und Decke, durch die um zehn Uhr abends, waehrend der "Weißen Naechte" sogar bis morgens, das Tageslicht scheint. Blass schimmert es in den festlichen Raum, von Messingkandelabern golden verstaerkt, ueber ein buntes Publikum: Russinnen, eine in traegerlosem Rita Hayworth-Kleid, eine ostdeutsche Interflug-Crew, arabische Geschaeftsleute und westliche Touristen. Kellner in weißem Smoking servieren roten und schwarzen Kaviar, Haehnchen a la Kiew, Weißwein vom Schwarzen Meer, Krimsekt und Wodka. Da, wo in der "Kathedrale" der Altar sein muesste, spielt eine Band zum Tanz auf, Leute kommen auf der Empore hinter den Samtvorhaengen der einstigen Separees hervor, sie tanzen, tanzen und tanzen... Was macht's, wenn einmal eine Wodkaleiche herausgetragen werden muss - die Stimmung ist nicht zu bremsen. Und sie erreicht ihren Hoehepunkt, als die Kapelle "Rock around the Clock" spielt...


St. Petersburg (WS)


Krasnaya Strela Express (WS)




Leningrad, 5. Mai 1986, noch zur kommunistischen Zeit. Rechts und links ueberholend fegt der Fahrer des schwarzen "Wolga" gegen elf Uhr nachts ueber den Newski-Prospekt, reicht uns am Moskauer Bahnhof des damaligen Leningrad an den Intourist-Agenten weiter und der hat schon einen Gepaecktraeger bei der Hand, der uns an einer Warteschlange vorueber auf einen hell erleuchteten Bahnsteig bringt, an dem ein langer dunkelroter Zug steht, dessen weiße Aufschriften groß das damalige Zauberwort "Krasnaya Strela Express" verkuenden - der "Rote Pfeil", Zug Nummer 1, der Funktionaerszug nach Moskau aus Stalins Zeiten, der prominenteste Zug der Sowjetunion.

Sein Bahnsteig ist, anders als die anderen, von einem Aluminiumbaldachin gekroent, seine Wagen sind glaenzender poliert als die anderen, sie unterscheiden sich von den ebenfalls dunkelroten des gegenueberstehenden Zuges Nr. 3 nicht nur durch ihre Aufschrift, sondern auch durch die große Zahl der sonst seltenen Zweibettabteile erster Klasse. Nicht weniger als sieben Schlafwagen sind der Ersten reserviert, einer davon stammt aus der alten Typenreihe mit 16 Plaetzen und Waschraeumen zwischen den Kupees. Die uebrigen neun Nachtzuege Leningrad - Moskau bestehen dagegen aus Wagen mit Vierbettabteilen. Noch ist der Zug Nummer 1 verschlossen, die Rollos sind hochmuetig herabgelassen, Kohlenrauch kraeuselt ueber den Daechern. Eine halbe Stunde vor Abfahrt um 23 Uhr 55 werden die Tueren geoeffnet und - aus jedem der fuenfzehn Schlafwagen tritt nicht die Mamuschka wie in anderen russischen Zuegen heraus, nein, eine vollendete Stewardesss, jede in makellos geschneidertem dunkelblauen Kostuem und elegantem Cape, es koennte von Pierre Cardin sein, eine schoener wie die andere. Sie lassen sich mit unbewegter Miene das Billet mit der magischen Zugsnummer 1 vorweisen und geleiten, unnahbar wie Direktricen, von Kopf bis Fuß Damen, die in ihren Schlafwagen wohl schon die maechtigsten Maenner des sozialistischen Weltreichs befoerdert haben, ueber Perserteppiche in die Abteile. Abteile? Altmodische Boudoirs eher, mit Betten nicht etwa uebereinander, wie sonst auf der ganzen Welt, sondern nebeneinander, zu beiden Seiten von einem weiß gedeckten Tisch, auf dem das Teegeschirr prangt, unter einem versiegelten Fenster, das zum gemeinen Bahnsteig hin durch Rollo, goldfarbene Vorhaenge und davor noch Scheibengardinen hermetisch abgeschirmt ist. Selbst der Chef des Zentralkomitees waere hier unbemerkt geblieben... Westtouristen fahren nicht mit. Sie moegen im "Glacier-Express" oder im Maharadscha-Zug reisen, hier nicht. Was sind ihre pauschalierten Ferienabenteuer schon gegen Liebe im "Roten Pfeil" - die war selbst James Bond nicht vergoennt.

Aufwachen bei Sonnenaufgang um sechs Uhr. Birkengehoelze draußen, ein Industriebezirk, es muss Tver sein, damals Kalinin genannt, und fast staendig ein Zaun entlang der zweigleisigen Strecke. Kiefern, ein See, der Wolga-Stausee, Schrebergaerten... Gleichmaeßig, mit kaum hundert Stundenkilometern, faehrt der Zug dahin. Die Unnahbare serviert Tee in altmodischen Glaesern.

Die ersten Hochhaeuser tauchen auf. Ein langer Schnellzug in Gruen und Weiß-Blau kommt entgegen, RIC-Schlafwagen und die rot-gelben Waggons des Expresszuges "Aurora" stehen auf Abstellgleisen. Der "Rote Pfeil" laeuft in Moskau, Leningrader Bahnhof, ein.

Aber wie gestaltet sich die Einfahrt - damals. Wie zu einem Triumphzug faehrt die rote ChS2T, Gleichstromvariante der ChS4T, langsam an einer Phalanx von Ordonnanzen, welche die zahlreichen mitreisenden Offiziere erwarten, an Gepaecktraegern, Eisenbahnern und Polizisten vorueber. Es scheint, als seien alle Bahnpolizisten Moskaus zusammengekommen, um den Eisenbahnfreund wissen zu lassen, dass das Photographieren strengstens verboten ist, da hier alles und jeder bewacht wird.

In diesem Ambiente laesst das Aufrufen des eigenen Namens erstarren: der unvermeidliche Intourist-Agent steht da, der unvermeidliche schwarze Wolga bringt uns in unvermeidlich rasanter Fahrt ins Hotel.

Nach dem Fruehstueck erzaehlt unsere mitreisende Freundin eine Geschichte, die irgendwie menschlich ist. Sie war im "Roten Pfeil" sehr frueh aufgestanden, wollte in den Waschraum am Ende des Schlafwagens gehen und, als sie in den Flur hinaustrat, huschten ein, zwei, ein halbes Dutzend mit dem Rasieren beschaeftigte Herren in Schlafanzuegen und Unterhosen eilends in ihre Abteile. Das Ereignis, dass im Funktionaerszug eine Dame mitreiste, hatte wohl die morgendliche Nachrichtenboerse gestoert...

Krasnaya Strela, Moskva 1986 (WS)




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